Der Weg zum „Allgäu-Diplom“
Um die Traditionen und Brauchtümer im Allgäu zu bewahren, wurde Anfang dieses Jahres das sogenannte Allgäu-Diplom eingeführt. Wir sprachen mit Klaus Schlösser vom Heimatbund e.V., der uns verriet, was man darunter versteht, wo die Kurse stattfinden, was es kostet, wer teilnimmt und vieles mehr.
Früher hat man solches Wissen in der Familie weitergegeben. Was Traditionen und Bräuche angeht, waren Oma und Opa immer ein wandelndes Lexikon. In ländlichen Bereichen gibt es noch den Familienverbund. Aber in der Stadt ist so was äußerst selten. Die junge Generation scheint sich nicht mehr für die Wurzeln zu interessieren. Obwohl: Zur Allgäuer Festwoche, dem größten Volksfest der Region Mitte August in Kempten, kommen fast alle jungen Leute im Landhaus-Look oder sogar in Tracht. Eine Neigung scheint also durchaus vorhanden zu sein. Nur sind die Kommunikationswege heute andere als früher. Junge Leute laufen auf dem Smartphone tippend durch die Straßen und haben kein Auge für die Umgebung. Hinzu kommt, dass das Thema Heimat in der Schule inzwischen zu kurz kommt. Statt Heimatkunde gibt es zwar das Fach Heimat- und Sozialkunde, aber viele Lehrer sind selbst keine Allgäuer und können dementsprechend wenig vermitteln. Deshalb hat sich der Heimatbund Allgäu als Dachorganisation von 35 Heimatvereinen im Allgäu entschlossen, die alten Kommunikationswege wiederzubeleben. Wir wollen heimatkundliches Wissen nicht verlieren, sondern möglichst breit streuen und dabei auch viele junge Leute erreichen. Wir sind bereits in Kontakt mit den Schulbehören, um unsere Seminare auch im Bereich Lehrerfortbildung zu integrieren. Davon abgesehen täte es auch vielen Kommunalpolitikern oder Managern gut, das Allgäu näher kennenzulernen, um zu begreifen, wie die Menschen hier ticken.
Was versteht man denn genau unter dem „Allgäu-Diplom“? Das hört sich so hochtrabend an.
Der Begriff „Allgäu-Diplom“ soll nicht den Eindruck vermitteln, als ob hier wissenschaftlich examiniert würde. Es gibt ja auch ein „Bier-Diplom“ und jede bessere Fahrschule nennt sich „Driver Academy“. Das sind Begriffe, die aus Marketing-Gründen gewählt werden, um die Zielgruppen möglichst attraktiv anzusprechen. Nach den bisherigen Seminaren lässt sich sagen, dass sich – mit einer einzigen Ausnahme – alle Teilnehmer an dem freiwilligen Wissenstest beteiligt haben, um das „Allgäu-Diplom“ zu erwerben. Das Zertifikat, das wir verleihen, ist sozusagen ein Köder, um möglichst viele Menschen für unsere Anliegen zu interessieren.
Wie viele Teilnehmer melden sich pro Seminar an und wie viele Kurse haben bereits stattgefunden?
Auf einen Pressebericht über die Gründung der Allgäuer Heimat-Akademie im vorigen Herbst haben sich spontan fast 100 Interessenten in der Geschäftsstelle des Heimatbunds Allgäu in Kempten gemeldet. Bisher sind fünf Seminare gelaufen mit zehn bis 20 Teilnehmern pro Kurs. Und dabei haben wir noch gar nicht viel Werbung machen können. Unser Bestreben war es, die Strukturen der Heimat-Akademie aufzubauen und das erste Interesse zu befriedigen. Nach der Sommerpause geht es dann richtig los.
Wie ist das Feedback bisher?
Am Ende eines jeden Seminars haben wir einen Bewertungsbogen ausfüllen lassen. Von einigen organisatorischen Anlaufschwierigkeiten abgesehen, wurden alle Bereiche von Seminarraum bis zum einzelnen Referenten mit sehr gut oder gut bewertet. Vor allem die Frage, ob die Seminare empfehlenswert sind, wurde durchwegs mit „ja“ oder „unbedingt“ beantwortet.
Wichtig ist natürlich auch, der Jugend Heimat, Brauchtum und Tradition nah zu bringen. Beteiligen sich denn auch Jugendliche an den Kursen?
Bei den bisherigen Teilnehmern war eine Altersgruppe von 40 bis 70 dominierend. Es waren aber auch einige jüngere dabei – sogar aus Oberschwaben und dem Bodenseeraum. Eine Zielgruppe, die wir mit den Kursen nach der Sommerpause im Auge haben, sind zum Beispiel die Landjugend oder andere Vereine.
Bei den Grundkursen werden vier Schwerpunktthemen behandelt: Geschichte, Natur und Landschaft, Kultur und Kunst sowie Volkskunde wie etwa Brauchtum und Tradition. Von wem werden die Seminare geleitet, sind das richtige Allgäuer?
Darauf können Sie sich verlassen. Wobei wir das württembergische Allgäu auch zum Allgäu rechnen. Die Grenzen sind da nicht eindeutig. Bis Napoleon war die Allgäuer Landkarte politisch gesehen ein Fleckerlteppich mit Grafschaften, freien Reichsstädten oder Besitztümern von Fürstäbten. Da waren die Grenzen ständig in Bewegung. Ein Herzogtum oder ein Königreich Allgäu gab es nie. Deshalb lässt sich auch nur ungefähr sagen, welche Gebiete überhaupt zum Allgäu gehören. Früher war die Region so bettelarm, dass viele gar nicht erst dazu gehören wollten. Das ist inzwischen anders. Es gibt immer mehr Gegenden, die furchtbar gerne zum Allgäu gehören würden. Über die Grenzen des Allgäu referiert in unseren Seminaren zum Beispiel Dr. Manfred Thierer, früher Hochschulprofessor für Geografie. Er lebt in Leutkirch und ist dort in der Heimatpflege sehr aktiv. Er vermittelt ein ungeheueres Wissen, aber auch den Eindruck, dass diese Art der Weiterbildung seinerseits mit viel Herzblut verbunden ist. Zu den Referenten zählen Pädagogen, Naturwissenschaftler und vor allem Heimatforscher, die sich als Hobby ein ungeheueres Wissen angeeignet haben und dies gerne weitergeben.
Zum Allgäu-Diplom gehört natürlich auch, die Sprache bzw. den Dialekt zu beherrschen. Wie kann man sich das Dialektseminar vorstellen?
Den Allgäuer Dialekt kann man nicht wie eine neue Sprache perfekt erlernen. Bis zum Schulalter ist die Entwicklung der Muttersprache weitgehend abgeschlossen. Die Versuche von Neubürgern, den Dialekt zu übernehmen, werden von Einheimischen in den allermeisten Fällen nach wenigen Sätzen entlarvt. Bei dem Referat „Mundart als Wurzel der Identität“ ist hochinteressant zu hören, dass der Allgäuer Dialekt eine weitgehend original erhaltene Ausprägung des Alemannischen ist. Seit 1200 Jahren hat sich da nicht viel verändert. Es sind noch unzählige Wörter in Gebrauch, die schon in mittelalterlichen Schriften zu finden sind. Allerdings sind zum Teil in engster Nachbarschaft andere Doppellaute oder Endungen gebräuchlich. Einheitlich ist andererseits, dass kein Allgäuer Dialektwort mit dem Buchstaben „n“ endet. Aus dem Alemannischen, das mit dem Schwäbischen verwandt ist, sowie aus dem Bayerischen und dem Fränkischen hat sich später das „Buch-Deutsch“ entwickelt, das was wir heute als Hochdeutsch kennen. Es ist erstaunlich, wie viele Wörter im alemannischen Sprachraum bis heute gleich sind. Sie finden sich im Allgäu, in Vorarlberg, in der Deutsch-Schweiz und im Elsaß. In Mulhouse gibt es zum Beispiel eine „Schüelgass“. Dialektforschung kann höchst spannend sein.
In späteren Seminaren sollen die Teilnehmer so gründlich ausgebildet, dass sie eine Aufgabe als Heimatpfleger übernehmen könnten. Was genau sind Aufgaben eines Heimatpflegers?
Die Aufgaben sind ungeheuer vielfältig, so wie der Begriff Heimat auch. Da geht es nicht nur darum, ein altes Haus vor dem Abbruch zu bewahren. Die Dorfwirtschaft ist ein Stück Heimat, das Ortsbild, die Schule, der Kindergarten, die Landschaft, die Feste und Gebräuche. Ein Großteil unseres täglichen Lebens hat in irgendeiner Form etwas mit Heimat zu tun. Ein Heimatpfleger sollte sich zum Beispiel auch dafür einsetzen, dass Erntedank statt Halloween gefeiert wird, dass der Funkensonntag nicht schon am Samstag stattfindet, weil dann mehr Besucher zu den Imbissbuden kommen.
Gibt es schon Heimatpfleger mit dem Allgäu-Diplom bzw. ist das Voraussetzung dafür?
Nein, das Diplom ist keine Voraussetzung. Im Gegenteil. Heimatpfleger wären eigentlich als Referenten in der Lage, Kursteilnehmer zu unterrichten und sie bis zum Diplom zu begleiten. Allerdings wird es immer schwieriger, jemanden zu finden, der bereit ist, die Aufgabe als Heimatpfleger zu übernehmen. Im Landkreis Lindau hat jede Gemeinde einen Ortsheimatpfleger. Im übrigen Allgäu gibt es so was nicht. Um den Aufgaben gewachsen zu sein, brauchen auch sie eine Aus- und Weiterbildung, vor allem wenn es darum geht, Nachwuchs für diese ehrenamtliche Tätigkeit zu finden. Dabei soll später auch die Heimat-Akademie helfen, wenn es Seminare mit ausführlichen Themenbereichen geben wird. Dazu wollen wir dann die Bezirksheimatpflege oder die Wissenschaftler der Universitäten Augsburg und München hinzuziehen. Das wird allerdings erst 2015 möglich sein.
An welchen Kursorten hatten Sie bisher die meiste Nachfrage?
Weil es Interessenten aus der ganzen Region gibt, wollten wir die Anfahrt zu unseren Seminaren so kurz wie möglich halten. Deshalb fanden die Kurse weit gestreut in Illerbeuren, Immenstadt, Weiler, Wertach und Kaufbeuren statt. Auffällig ist dabei das große Interesse aus dem Bereich Oberschwaben. Im württembergischen Teil des Allgäus hat die Heimatpflege einen offenbar höheren Stellenwert als im bayerischen Teil.
Ist es mit den Kursen auch Zugereisten möglich, ein originaler Allgäuer zu werden?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Objektiv gesehen kaum, aber es kommt wie so oft auf die innere Einstellung an. Wenn sich jemand mit seiner neuen Heimat im tiefsten Herzen identifiziert, dann ist es für ihn sicher hilfreich, wenn er in einem solchen Seminar so viel wie möglich über diese neue Heimat erfährt. Augenzwinkernd könnte man auch sagen, die Allgäuer Heimat-Akademie trägt auch zur Integration bei.
Was kostet ein Kurs mit Allgäu Diplom?
Für den Grundkurs wird eine Teilnahmegebühr von 120 Euro erhoben. Davon müssen jeweils rund zehn Referenten honoriert, ein Raum angemietet, Marketing betrieben und Personalkosten in der Geschäftsstelle ausgeglichen werden. Da dieses Projekt des Heimatbunds vom EU-Regionalprogramm LEADER gefördert wird, erhalten wir in den ersten zwei Jahren für die meisten Aufwendungen 60 Prozent Zuschuss. Danach muss sich die Akademie selbst tragen.
Wann läuft der nächste Kurs an und wo kann man sich anmelden?
Der letzte Kurs in diesem Frühjahr ist Ende Mai in Kaufbeuren gelaufen. Jetzt geht es erst nach der Sommerpause im September weiter. Infos dazu gibt es auf unserer Homepage im Internet unter www.allgaeuer-heimatakademie.de. Anmeldungen nimmt unsere Geschäftsstelle in Kempten, Westendstraße 21, 87439 Kempten entgegen (Telefon 0831 / 512 2617, E-Mail info@heimatbund-allgäu.de).
Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben für das Interview.