Ostfriesland: Die Seehundstation Norddeich und das Waloseum zeigen Natur pur!

Faszinierend und unvergesslich

Wenn man in Ostfriesland zu Besuch ist, gehört ein Abstecher zur Seehundstation Norddeich einfach dazu. Die niedlichen Heuler mit ihren großen, schwarzen Augen begeistern Kinder sowie Erwachsene auf den ersten Blick – doch hinter den Kulissen steckt viel mehr als nur ein tierisches Erlebnis. Hier geht es um Artenschutz, Aufzucht und echte Verantwortung für Wildtiere im Lebensraum Wattenmeer. Die Station leistet seit Jahrzehnten bedeutende Arbeit im Bereich Umweltbildung, Forschung und Tierpflege – mit großem Engagement und klarem Auftrag. Unsere Redakteurin Silke Dahnke hat mit Dr. Peter Lienau gesprochen und dabei spannende Einblicke in die Geschichte, Arbeitsweise und Visionen für die Zukunft erhalten...

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Bild: stock.adobe
Silke Dahnke: Wie und wann entstand die Idee zur Gründung der Seehundstation?
Dr. Peter Lienau: Die ersten Gedanken darüber reichen bis in die späten 1960er-Jahre zurück. Es waren zwei engagierte Jäger – Winhold Schumann und Erwin Manninga – welche die Idee entwickelten, verwaisten Seehunden zu helfen und diese dann wieder auszuwildern. Ihr Anliegen war es außerdem, die gesamte Population der Seehunde im Wattenmeer aktiv zu stützen. Mit viel ehrenamtlichem Engagement wurde in Norden am Schwanenteich ein erstes Gelände gepachtet. Dort konnte am 25. Juni 1971 der erste Heuler namens „Jan“ aufgenommen werden. Gemeinsam mit zwei weiteren Jungtieren wurde er einige Monate später erfolgreich ins Wattenmeer zurückgebracht – ein symbolträchtiger Meilenstein für den Naturschutz in Niedersachsen. Ein bedeutender Schritt war die Gründung des Vereins „Zur Erforschung und Erhaltung des Seehundes e.V.“ im Jahr 1978. Zwei Jahre später, 1980, zog die Station an ihren heutigen Standort nach Norddeich um.

Was geschieht – ganz allgemein – vom Moment der Auffindung eines Tieres bis zur Auswilderung?
Seehundjungtiere werden meist infolge menschlicher Störungen oder extremer Wetterlagen wie Sommergewitter oder langanhaltender Stürme aus Nordwest verwaist. Grundsätzlich werden alle der Seehundstation gemeldeten Tiere von den ehrenamtlichen Mitarbeitern, meist Wattenjagdaufsehern, unter Beobachtung genommen. Erst wenn verifiziert wurde, dass kein Kontakt zum Muttertier möglich ist, werden die Heuler in die Quarantänestation des Waloseums gebracht. Nachdem sichergestellt wurde, dass die Tiere gesund und überlebensfähig sind, werden sie in die Seehundstation nach Norddeich zur weiteren Versorgung gebracht. Dort beginnt die Aufzucht: Zunächst erfolgt die Fütterung mit einem Muttermilchersatz, später die Umstellung auf Hering. Bleibt die Entwicklung positiv, dauert der Aufenthalt im Schnitt 63 Tage. Hat das Tier dann ein Mindestgewicht von 25 Kilogramm erreicht und ist in absoluter Top-Kondition, wird es umgehend ausgewildert – zurück in den natürlichen Lebensraum. 

Werden die aufgenommenen Tiere individuell gekennzeichnet? Und bekommen sie während ihres Aufenthalts auch Namen? 
Die Tiere werden mit einer Flippermarke mit Nummer und subkutan mit einem Transponderchip markiert. Die Namen erhalten sie meist von ihren Paten. Sollte ein Tier keine Patenschaft haben, wählen unsere Tierpflegerinnen und -pfleger einen passenden Namen aus.

Haben die Seehunde unterschiedliche Eigenheiten oder Wesensarten?
Ja, alle Tiere sind individuelle, interessante Charaktere, die wir allerdings nicht näher kennenlernen können, da wir bestmöglich mit maximaler Distanz zum Tier aufziehen. Es handelt sich schließlich um Wildtiere, die nach circa zwei Monaten in menschlicher Obhut alleine in freier Wildbahn zurechtkommen müssen.

Gibt es unvergessliche Erfolgsgeschichten von Tieren, die Ihnen immer noch in Erinnerung geblieben sind?
Definitiv! Einige davon begleiten uns tatsächlich bis heute. Ein besonderes Beispiel ist die schnellste erfolgreiche Aufzucht eines Heulers innerhalb von nur 37 Tagen. Und dann war da noch Seehündin „Charlotte“ – sie tauchte bei ihrer Auswilderung zunächst ab und kam kurz darauf mit ihrer ersten selbstgefangenen Scholle zurück an die Oberfläche. Ein Gänsehautmoment für alle Beteiligten!

Wie ist die aktuelle Situation der Seehund- und Kegelrobbenbestände in der Nordsee zu bewerten?
Die Seehundpopulation ist stabil und liegt auf hohem Niveau – in Niedersachsen leben aktuell knapp unter 10.000 Tiere. Bei den Kegelrobben sehen wir eine positive Entwicklung, mit einer ansteigenden Tendenz auf mittlerweile über 1.500 Tiere. Beide Arten sind als Top-Prädatoren wichtige Bioindikatoren für das „Ökosystem Nordsee“.

Was wünschen Sie sich, dass Besucher nach einem Aufenthalt in Ihrer Station mit nach Hause nehmen – emotional oder inhaltlich?
Vor allem eins: Finger weg von Wildtieren!!! Jeglicher Art!!! Wir wünschen uns, dass alle Gäste ein Gefühl dafür entwickeln, wie wichtig ein umweltbewusstes Leben ist – denn nur so können wir die Lebensräume dieser faszinierenden Tiere schützen.

Warum ist es Ihnen wichtig, dass die Seehundstation nicht als reine „Attraktion“, sondern als Wildtierstation verstanden wird?
Wir hoffen, dass unsere Besucher uns als das wahrnehmen, was wir sind: Eine Wildtierstation. Wenn jeder das verinnerlicht hat und diese Erkenntnis weiterträgt, dann haben wir viel erreicht. Somit schaffen wir Akzeptanz für den Lebensraum der Wildtiere und diese selbst! Wir möchten, dass Menschen Verständnis und ein Gefühl für Wildtiere und ihren Lebensraum entwickeln – und das auch kommunizieren. Was wir gar nicht hören wollen: „Es waren nur ein paar Robben zu sehen – langweilig…“ Nein, das ist großartig! Wer sich mit unserer Arbeit beschäftigt, versteht den Wert dieser Momente und konsumiert nicht nur passiv.

Was gestaltet die Seehundstation Norddeich aus Ihrer Sicht zu einem besonderen Ausflugsziel in Ostfriesland?
Wir sind die einzige Station dieser Art in ganz Niedersachsen. In Kombination mit dem Waloseum bieten wir ein umfassendes Lernpaket rund um das Wattenmeer und seine tierischen Bewohner. Wissen, Erlebnis und Engagement – alles in der Region.

Was erwartet die Gäste bei einem Besuch – welche Highlights und Erlebnisse bietet die Station?
Unsere Besucher können die Arbeit der Station hautnah miterleben – durch verspiegelte Panorama-Scheiben, ohne die Tiere zu stören. Dazu gibt es eine interaktive Ausstellung, die mit allen Sinnen das Wattenmeer als Lebensraum für Meeressäuger erlebbar macht.

Wenn Sie Ostfriesland in drei Worten beschreiben müssten – welche wären das und wie passt die Seehundstation dazu?
Weite, Himmel, Mee(h)r. Die Seehundstation ist das „h“ im Meer oder das i-Tüpfelchen, um das Ganze zu begreifen.

Wie können sich Interessierte für die wertvolle Arbeit der Seehundstation einsetzen?
Zum einen freuen wir uns über jede Form der ideellen Unterstützung – beispielsweise indem man in seinem Umfeld auf unsere Arbeit aufmerksam macht oder für uns wirbt. Eine Mitgliedschaft im Freundeskreis der Seehundstation oder die Übernahme einer Tierpatenschaft hilft uns sehr, da sie unsere Arbeit langfristig absichert. Ebenso wichtig ist aber ein umweltbewusstes Verhalten im Alltag – sowohl im Wattenmeer als auch in allen anderen natürlichen Lebensräumen. Wer sich respektvoll und angepasst in der „freien Wildbahn“ verhält, leistet einen direkten Beitrag zum Schutz der Tiere. Und nicht zuletzt möchten wir alle ermutigen, bei Wildtierfunden immer zuerst den telefonischen Kontakt mit Fachleuten zu suchen. In vielen Fällen sind Jungtiere nicht wirklich verwaist – die Mutter hat sich vielleicht nur kurz zurückgezogen. Durch vorschnelles Eingreifen wird oft mehr Schaden angerichtet als geholfen.

Mehr Informationen finden Sie unter www.seehundstation-norddeich.de