Kritische Lebensereignisse als Chance begreifen

Wie Eltern ihre Kinder gut durch Krisen begleiten

Eltern können ihren Kindern kritische Lebensereignisse nicht ersparen, sie aber in diesen Phasen begleiten. Ihr Kind oder Enkelkind wird plötzlich laut, unverschämt – oder spricht nicht mehr mit Ihnen und zieht sich zurück. Sie wissen nicht warum. Was ist los? Diese oder ähnliche Verhaltensweisen kommen in der Entwicklung jedes Kindes oder Jugendlichen vor. Wie kann man sie verstehen, wie ihnen angemessen begegnen?

Neuere Ansätze der Entwicklungspsychologie und der Krisentheorie können hier hilfreiche Erkenntnisse liefern. Während frühere Autoren davon ausgingen, dass die menschliche Entwicklung nach einem vorgegeben Muster abläuft, gehen neuere Autoren davon aus, dass ein Mensch in seinem Werden vor allem durch das geprägt wird, was er erlebt hat. Ereignisse, die sich besonders einprägen, werden kritische Lebensereignisse genannt. Gemeint sind damit plötzliche Veränderungen im Leben eines Menschen. Typische Beispiele sind Einschulung, Pubertät, die Geburt eines Kindes, Trennung und Scheidung, der Tod eines nahen Verwandten, der Eintritt ins Rentenalter oder eine plötzliche schwere Erkrankung. All diese Ereignisse haben gemeinsame Merkmale:

  • Sie erzwingen eine starke Veränderungen der bisherigen Lebensumstände;
  • diese Veränderungen verkörpern einen Zustand des Ungleichgewichtes zwischen der Person und ihrem Umfeld;
  • sie sind von starken Gefühlen begleitet;
  • Sie erfordern eine Neuanpassung der Person an die veränderte Lebenslage;
  • Sie werden als umso belastender erlebt, je plötzlicher und unvorhergesehener sie eintreten.

In dem Begriff "kritisches Lebensereignis" steckt das Wort Krise. Von Krise wird gesprochen, wenn eine Person ihr Gleichgewicht verliert und ein Zustand eintritt, den die betreffende Person nicht mehr bewältigen kann; so fühlt sie sich in ihrer Identität gefährdet. Diese Gefährdung bietet aber auch die Chance des Wachsens und Reifens.

Interessant ist, dass das chinesische Schriftzeichen für Krise ein Doppelzeichen ist: Das eine Zeichen bedeutet "Gefahr", das andere "Chance" oder "gute Möglichkeit". Damit ist etwas sehr Wichtiges angedeutet: Kritische Lebensereignisse und Krisen sind beides zugleich: Gefahr und Chance!

Eltern, die ihren Kindern helfen wollen, kritische Lebensereignisse und Krisen zu meistern, möchte ich vier Anregungen geben. Das Gesagte gilt natürlich in ähnlicher Weise auch für Großeltern im Umgang mit ihren Enkelkindern.

Erstens: Vertrauen schenken! Kritische Lebensereignisse gehen immer mit einer mehr oder weniger starken Verunsicherung einher. Diese zeigt sich oft in Selbstzweifeln, grüblerischen Gedanken und einer gedrückten Stimmung. Oft rufen solche kritischen Lebensereignisse im Leben Ihrer Kinder Erinnerungen an eigene Krisen wach – an solche, die gut bewältigt werden konnten und andere, die innere Verwundungen hinterlassen haben. So ist es gerade in solchen Situationen wichtig, ihrem Kind mit einem großen inneren Vertrauen zu begegnen: Ich vertraue Dir! Du schaffst das schon! Du hast unsere Unterstützung! Das Vertrauen stärkt und festigt die inneren Fähigkeiten und Stärken, die Ihr Kind hat.

Zweitens: Freiraum lassen und zugleich ansprechbar bleiben! Die Chance eines kritischen Lebensereignisses besteht darin, dass das Kind oder der Jugendliche lernt, eigene Fähigkeiten und Ressourcen zu entdecken und einzusetzen. Diese Fähigkeiten kann Ihr Sohn oder Ihre Tochter jedoch nur lernen, wenn er ein Stück weit auf sich allein gestellt ist. Es ist ähnlich wie beim Gehen-lernen: Anfangs braucht das Kind die stützende Hand der Mutter, dann braucht es die Mutter nur mehr in der Nähe und schließlich kann es allein gehen. Aber denken Sie daran: Kein Kind kann gehen lernen, ohne auch immer wieder hinzufallen. Dann ist es wichtig, dass das Kind die Erfahrung machen darf: Meine Mutter, mein Vater sind in der Nähe, sie werden mir wieder aufhelfen. Wollten Eltern um jeden Preis vermeiden, dass ein Kind niederfällt, würde es nie gehen lernen!

Drittens: Schwellenphasen begleiten! Die Anthropologen Van Genepp und V. Turner haben zur Beschreibung und Deutung von kritischen Lebensereignissen den Begriff der Schwellenphase geprägt. Damit ist eine Phase des Überganges gemeint, in der das Alte nicht mehr gilt – und das Neue noch nicht gefunden ist. Diese Phase ist meist von einer starken Unsicherheit gekennzeichnet. Es ist meist sehr unangenehm, sie auszuhalten. Sie birgt jedoch die Chance in sich, dass Ihr Sohn oder Ihre Tochter entdecken können, wer sie wirklich sind – unabhängig davon, was andere von ihr oder ihm erwarten. Es ist aber auch wichtig, als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen, damit sich in dieser Schwellenphase eine neue, reife Identität bilden kann.

Viertens: Struktur anbieten! Kritische Lebensereignisse bieten die Chance, ein eigenes Beziehungsnetz (Partnerschaft, Freundschaft) aufbauen zu können, eine persönliche, der eigenen Person entsprechende Aufgabe (Beruf) zu finden und sich für einen in der eigenen Person verankerten Glauben zu entscheiden. Ihr Sohn oder Ihre Tochter wird diese Aufgabe umso eher bewältigen können, je mehr Ihre Kinder Sie als erwachsenes Gegenüber – auf Augenhöhe – erleben, als Menschen, die eigene Überzeugungen haben, mit denen sie nicht hinter dem Berg halten, die sie jedoch ihren Kindern nicht aufdrängen, sondern anbieten.

Der Autor: Diplom-Psychologe Dr. Klemens Schaupp ist psychologischer Psychotherapeut und tätig im Berufsbildungswerk Dürrlauingen, einer Einrichtung der Katholischen Jugendfürsorge der Diözese Augsburg.
Katholische Jugendfürsorge der Diözese Augsburg e.V. (KJF)
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Die rund 3.700 Beschäftigten des Verbandes helfen im Jahr 75.000 Kindern, Jugendlichen und Familien bei Schwierigkeiten und Fragen. Vorstandsvorsitzender der KJF ist Markus Mayer, Vorsitzender des Aufsichtsrates ist Weihbischof em. Josef Grünwald.

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