Eine Welt ohne Twitter - möglich oder undenkbar?

Seit der Übernahme des blauen Vogels durch Milliardär Elon Musk geht es bei Twitter rund - Massenentlassungen, verschobene Neuerungen, düstere Aussichten. Es drängt sich die Frage auf, welche Zukunft Twitter hat und wie eine Welt ohne das Zwitscher-Netzwerk aussähe. Die Antwort von Experten ist komplex: Eine Minderheit würde den Internetdienst wohl schmerzlich vermissen - die allermeisten Menschen dagegen überhaupt nicht. Im Moment fehlt auch schlicht eine vergleichbare Alternative.

Nach Angaben vom Juni hat Twitter rund 237 Millionen tägliche Nutzerinnen und Nutzer - damit ist die Anhängerschaft deutlich kleiner als die der Plattformen Facebook mit knapp zwei Milliarden, Tiktok mit gut einer Milliarde und Snapchat mit 363 Millionen Usern. Musk will den Dienst zu neuer Größe führen und strebt eine Milliarde Nutzer an - davon ist Twitter weit entfernt.

Twitter sei "in keiner Weise notwendig", schreibt etwa der New Yorker Unternehmer Steve Cohn auf seinem eigenen Twitter-Account. "Die Welt kommt gut ohne Twitter aus." Er hält den Dienst für einen künstlichen Mikrokosmos einer kleinen Elite. Der Großteil der Tweets komme von einem Prozent der Nutzerinnen und Nutzer - "die allermeisten Menschen nutzen es nicht".

Und so ist Twitter in den vergangenen Jahren vor allem Sprachrohr für Politiker und Politikerinnen, Unternehmen und Promis sowie für die Medienwelt geworden. Regierungen nutzen die kurzen Ankündigungen ebenso wie Journalisten, die auf ihre Arbeit aufmerksam machen und Medizinerinnen, die auf Studien verlinken und sich über Corona austauschen.

Befürworter wie Karen North, Kommunikations-Professorin an der University of Southern California, halten Twitter für unverzichtbar für die offene Kommunikation. "Menschen, die keine Promis sind, werden die meiste Zeit nicht gehört." Auf Twitter hätten sie jedoch die Möglichkeit dazu. In Zeiten von Konflikten, Aufständen und sozialen Unruhen sei Twitter "die zentrale Plattform, um die Wahrheit zu verbreiten", sagt auch Charles Lister vom Nahost-Institut in Washington.

Die Kehrseite der Medaille ist das Verbreiten von Hassnachrichten und Fake-Beiträgen - laut einer Studie aus dem Jahr 2018 verbreiten sich Unwahrheiten schneller als faktenbasierte Nachrichten. Seit jeher versucht auch Twitter, dem mit der Moderation von Inhalten Herr zu werden. Doch das steht nun in Frage, denn seit Musks chaotischer Übernahme haben zwei Drittel der Beschäftigten dieser Teams das Unternehmen verlassen.

Ein Scheitern von Twitter könnte erhebliche Auswirkungen auf den Journalismus haben, finden Expertinnen wie North. Twitter sei "kein soziales Netzwerk", sondern ein "Netzwerk für Nachrichten und Informationen", argumentiert sie. Medienschaffende nutzten die Plattform für "Ideen, Überschriften, Quellen, Zitate". Mit schwindenden Arbeitskräften und finanziellen Mitteln in den Redaktionen fehlten schlicht die Ressourcen, um "Quellen draußen in der Welt" zu suchen und zu finden. Das funktioniere bei Twitter gut - in Echtzeit.

Reiche und einflussreiche Stars und Politiker könnten auch ohne Twitter ihre Botschaft absetzen und die Aufmerksamkeit der Medien erlangen - nicht aber Menschen, die nicht so sehr im Rampenlicht stehen. "Bei Twitter kann derzeit noch jeder eine Geschichte erzählen", sagt North.

Die Forscherin Caroline Orr von der Universität in Maryland gibt noch etwas zu bedenken: Bei Wirbelstürmen, Terrorangriffen, Schießereien und weiteren Katastrophen sei Twitter unverzichtbar für Informationen und Updates, den Austausch unter Menschen und für gegenseitige Hilfsangebote. "Das ist etwas, das nicht so einfach ersetzt werden kann."

Und tatsächlich ist eine vergleichbare Alternative zu Twitter bislang nicht in Sicht. "Facebook ist nützlich, aber auch ein bisschen altmodisch", sagt Charles Lister vom Nahost-Institut. Kleinere Konkurrenten wie Mastodon oder Reddit haben noch nicht die Kraft, um im großen Stil Nutzer abzuwerben - obwohl das Netzwerk Mastodon seit Musks Übernahme an Popularität gewinnt. Eine Alternative zu Twitter ist gleichwohl "natürlich" möglich, sagt Lister. "Nur eben nicht über Nacht."