Übernahme mit Folgen: Vor einem Jahr kaufte Elon Musik Twitter auf
Es war die wohl schlagzeilenträchtigste Übernahme des vergangenen Jahres: Nach monatelangem Hin und Her kaufte der High-Tech-Unternehmer Elon Musk vor einem Jahr den Kurzbotschaftendienst Twitter. Satte 44 Milliarden Dollar - heute rund 42 Milliarden Euro - legte er für die Plattform hin. Doch mit radikalen Umbaumaßnahmen und umstrittenen Entscheidungen stürzte Musk den inzwischen in X umbenannten Online-Dienst ins Chaos. Kritiker prangern eine Zunahme von Hassrede und Falschinformationen auf der Plattform an, hinter deren Zukunft viele Fragezeichen stehen.
Das wurde zuletzt nach dem Großangriff der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas auf Israel deutlich. Auf X - aber auch auf anderen Internetplattformen - verbreiteten sich massenhaft Falschmeldungen. Die EU-Kommission leitete deswegen ein Verfahren gegen X ein.
Das Verhältnis von sinnvollen Informationen und Lärm bei dem Kurzbotschaftendienst sei inzwischen "unerträglich", beklagt Andy Carvin vom Digital Forensic Research Lab der US-Denkfabrik Atlantic Council. Vorbei seien die Zeiten, in denen X seinen Nutzern geholfen habe, aktuelle Nachrichten zu verfolgen und "Fakten von Fiktion" zu trennen. "Der Nutzen als verlässliches Instrument für Recherche und Berichterstattung ist grundlegend zerbrochen und wird sich womöglich nie wieder erholen", sagt Carvin.
Dabei hatte Musk beim Kauf von Twitter am 27. Oktober 2022 versprochen, die Plattform in den "gemeinsamen digitalen Marktplatz" für öffentlichen Meinungsaustausch auszubauen. Der reichste Mensch der Welt und Chef des Elektroautobauers Tesla prangerte eine angebliche Beschränkung der Meinungsfreiheit auf Onlineplattformen an und versprach, sich für eine absolute Redefreiheit einsetzen zu wollen, ohne Twitter in eine "anarchische Hölle" zu verwandeln.
Doch von Anfang an fuhr der streitbare Multimilliardär, der direkt nach der Übernahme das Twitter-Spitzenmanagement und rund die Hälfte der Mitarbeiter entließ, einen umstrittenen Kurs. So ließ er eine Reihe von gesperrten Nutzerkonten wieder freischalten, unter anderem jenes des nach der Kapitol-Erstürmung am 6. Januar 2021 verbannten Ex-US-Präsidenten Donald Trump.
Musk schränkte auch die Moderation von Inhalten deutlich ein, legte Axt bei den Teams zum Kampf gegen Falschinformationen an - und fiel immer wieder höchstpersönlich durch die Verbreitung von Verschwörungstheorien und rechtspopulistischen Äußerungen auf.
Der 52-Jährige herrscht wie ein launischer Monarch über die Plattform, auch wenn er mit der Werbemanagerin Lina Yaccarino formal eine neue Unternehmenschefin ernannt hat. So treibt er seine Pläne voran, Nutzer von X zur Kasse zur bitten. Dass er das berühmte Verifizierungshäkchen zum Teil eines Bezahl-Abos machte, sorgte für Kritik und vorübergehendes Chaos.
Viele wenden sich inzwischen anderen Plattformen zu, zumal es bei X infolge des massiven Stellenabbaus immer wieder technische Pannen gab. Doch zu einem von Zweiflern prognostizierten Zusammenbruch von X ist es bislang ebenso wenig gekommen wie zu einem echten Nutzer-Exodus. Trotz konkurrierender Angebote wie Threads von der Facebook-Mutter Meta oder Mastodon ist X im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit und Meinungshoheit zumindest derzeit noch zu wichtig.
David Carr vom Internetanalysedienst Similarweb schreibt, das X-Publikum sei geschrumpft, aber nicht verschwunden. So konstatiert Similiarweb für den September einen Rückgang der Nutzung von X um 14 Prozent im Vorjahresvergleich. Mit Ausnahme des Interesses an Musks Profil und Kurzbotschaften würden alle Trends nach unten gehen. Carr sieht die Plattform deswegen in einer "langsamen Abwärtsspirale".
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman geht da einen Schritt weiter: Er sprach kürzlich in der "New York Times" von einer "Todesspirale", weil Nutzer nützliche Inhalte immer weniger auf X und immer mehr auf anderen Diensten teilen würden. Krugman fügte sarkastisch hinzu, es sei äußerst schwierig, eine so etabliert Plattform wie X zu zerstören. "Aber es erscheint zunehmend wahrscheinlich, dass Elon Musk das Zeug dazu hat".
© 2023 AFP