Allgäuer Hochschuldozent Ingmar Niemann analysiert Landtagswahlen in SH und NRW

«Union wieder Volkspartei»

TRENDYone führte mit dem bekannten Politikwissenschaftler und Hochschuldozenten Ingmar Niemann, der auch an der Hochschule Kempten für die Fakultät Betriebswirtschaft Lehrbeauftragter ist, ein Interview zum Ausgang der beiden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Die Ampelkoalition hatte einen schwierigen Start. Neben der Debatte um eine mögliche Impflicht, für die sich innerhalb der Koalition keine Mehrheit fand, war es vor allem der Einmarsch Russlands in die Ukraine, der die Koalition seit Anbeginn ihrer Regierungszeit in eine Art Alarmzustand versetzte.

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Der bekannte Allgäuer Hochschuldozent Ingmar Niemann analysiert die Landtagswahlen in SH und NRW.Bild: Jörg Spielberg
TRENDYone: Herr Niemann, betrachten wir die beiden Landtagswahlen in SH und NRW einmal als Lackmustest für den Stand der Ampel in der Bevölkerung. Wie beurteilen Sie den Ausgang der Wahl zum einen in Schleswig-Holstein und zum anderen in Nordhein-Westfalen?

Ingmar Niemann: „Dass es um die Ampel nicht besonders gutsteht, musste nicht erst durch Wahlen bestätigt werden. Den weitgehend überforderten Ministern der SPD – von Verteidigung über Wohnungsbau bis zum Innenministerium – und bis auf Christian Lindner auch den völlig unauffälligen Ministern der FDP stehen zwei höchst effiziente Minister der Grünen gegenüber: Annalena Baerbock und Robert Habeck sind äußerst engagiert, kommunizieren überzeugend und repräsentieren Deutschland weit mehr, als es der Kanzler tut. Also kein Wunder, dass die Grünen bei den Wahlen deutlich besser abschneiden als ihre Ampelpartner."

TRENDYone: Was bedeuten die Wahlergebnisse in SH und NRW für die Zusammensetzung des Bundesrates, also für die weitere Regierungsfähigkeit der Ampel?

Ingmar Niemann: „Auswirkungen auf den Bundesrat haben diese Wahlen keine, da Parteien, die nicht im Bund aber in den Ländern miteinander koalieren, in der Regel vereinbaren, dass sie sich im Bundesrat der Stimme enthalten, sollte es zu strittigen Gesetzesvorlagen auf Bundesebene kommen. Da jeweils eine Ampelpartei in einer Koalition mit der Union vertreten sein wird, wird eine solche Vereinbarung aller Voraussicht nach beschlossen werden. Sollte es allerdings in NRW widererwartend zu einer Ampelkoalition kommen, dann hätte die Bundesregierung im Bundesrat 6 Stimmen hinzugewonnen und ihr Gewicht dort erheblich vergrößert."

TRENDYone: Schmiedet die Union Pläne, aus einer Ampel- eine Jamaika-Koalition im Bund zu machen oder täuscht dieser Eindruck? Ministerpräsident Daniel Günther ließ ja bereits verlauten, er könne sich in SH eine Jamaika-Koalition auch ohne Zwang erneut vorstellen?

Ingmar Niemann: „Eine Koalition von Parteien, die für eine qualifizierte Parlamentsmehrheit nicht unbedingt notwendig sind, gehen Parteien in der Regel nicht ein. Zu groß ist die Gefahr, bei wichtigen Entscheidungen „nicht gebraucht“ und damit in einer Regierung für etwas zur Rechenschaft gezogen zu werden, was man selbst so nicht entschieden hat. Für SH gilt daher entweder Schwarz-Grün oder Schwarz-Gelb, alles andere ist eine Show-Veranstaltung!
Allerdings ist für die Union ein Jamaika-Dreierbündnis dann eine Option, wenn es zu zweit nicht reicht und hier dürfte Jamaika derzeit die einzige Option sein!"

TRENDYone: Wie bewerten Sie die bisherige Arbeit des neuen Oppositionsführers Friedrich Merz und seinen Einfluss auf die Landtagswahlen?

Ingmar Niemann: „Friedrich Merz kann sich freuen, zwei vergleichsweise junge und zugleich erfolgreiche Ministerpräsidenten in den Ländern für die Union vorweisen zu können. Dabei muss SH im Wesentlichen als Erfolg von Ministerpräsident Daniel Günther gewertet werden. In NRW war es dagegen eine Team-Lösung. Diese Wahl, die aufgrund der hohen Zahl der Wahlberechtigten als „kleine Bundestagswahl“ gilt, wurde von allen Parteien mit ihrem Spitzenpersonal bestritten (und in Teilen auch so plakatiert). Für Friedrich Merz, der selbst aus NRW kommt, war es daher von besonderer Bedeutung hier präsent zu sein und gut abzuschneiden. Und bei dem CDU-Ergebnis kann man festhalten, die Union ist wieder zurück als „Volkspartei“ (über 30 % Stimmenanteil)!"

TRENDYone: Die FDP blieb deutlich unter Ihren Erwartungen, woran liegt's?

Ingmar Niemann: „Die Selbstwahrnehmung der Partei entspricht nicht der politischen Realität. Bei beiden Landtagswahlen hatte man ganz andere, wesentlich höhere Ergebniserwartungen. Aber wie will man ein Wahlkreuz bei der FDP dem Wähler vermitteln, wenn man 2017 in NRW antritt, um die rot-grüne Koalition in Düsseldorf zu beenden, aber noch in derselben Legislaturperiode gerade diesen beiden Parteien auf Bundesebene zur Macht verhilft?
Die FDP beschwert sich, die Union hätte die Erfolge der NRW-Regierung ausschließlich für sich reklamiert. Doch dem Ministerpräsidenten (Anm.: Armin Laschet), der sich 2017 trotz knappster Mehrheitsverhältnisse (eine Stimme) doch für die FDP als Koalitionspartner in Düsseldorf aussprach und den Liberalen viel politischen Spielraum in NRW gab, wurde dafür nach der Bundestagswahl von Seiten der FDP keine Chance für Koalitionsverhandlungen gegeben. Muss man sich dann wundern, dass man nicht mehr fair behandelt wird?

Als bürgerliche Partei eine linke Regierung zu stützen kann nicht erfolgreich sein, wenn das Wahlprogramm weitgehend deckungsgleich mit der größten Oppositionspartei (CDU) ist, was Friedrich Merz und führende FDP-Politiker immer wieder in der Vergangenheit bestätigten. Wer Rot-Grün will, wählt auch Rot oder Grün. Wer eine bürgerliche Regierung will, wählt die Union und nicht die Liberalen, nur um dann „Rot-Grün light“ zu erhalten. Und so wirkt sich letztlich auch die Position der FDP auf Bundesebene auf die Länder aus. Folglich kann die FDP in einer Ampelkoalition nur verlieren! Übrigens keine neue Erkenntnis: Schon im vergangenen Jahr vor der Bundestagswahl hat die FDP bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz (dort regiert(e) eine Ampelkoalition!) fast ein Prozent verloren, während sie am selben Wahltag bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg zwei Prozent hinzugewann.

Für die Liberalen geht es daher in den nächsten Jahren um die Existenz. SH mit einem Verlust von über 40 % ihres Wähleranteils und NRW mit einem Minus von fast 55 % der Stimmen sind da nur ein Vorgeschmack dessen, was noch kommt."

TRENDYone: Auch die AfD hat Stimmen verloren. Rächt sich jetzt für die AfD eine Ein-Themenpartei zu sein und sich in punkto Ukrainekrieg zu sehr auf die Seite Russland zu stellen?

Ingmar Niemann: „Der AfD sind in letzter Zeit einige Themen abhandengekommen: Frau Merkel ist nicht mehr Kanzlerin, Migration ist derzeit (noch) kein Thema, die nächste Finanz bzw. Eurokrise entwickelt sich schleichend und wird nicht diskutiert. Und natürlich ist die Russlandnähe einiger AfD-Funktionäre derzeit nicht hilfreich. Gleichwohl sind das nicht die entscheidenden Gründe. Die AfD steht vor der Frage, ob sie eine bürgerliche Partei mit Koalitionsfähigkeit werden oder ob sie eine ewige Oppositionspartei mit rechtsradikalem, rassistischem Weltbild bleiben will. Sollte der „Flügel“ um Björn Höcke die Partei „übernehmen“, dann dürfte die AfD die 5 % Hürde kaum noch nehmen können. Schon jetzt hat sie hintereinander zehn verlorene Wahlen hinter sich und schafft im bevölkerungsreichsten Bundesland gerade mal so noch 5,4 %, sie steht also knapp vor dem Scheitern."

TRENDYone: Die Linke verliert bei beiden Wahlen Zuspruch, obwohl „linke" Themen so nicht mehr von der SPD besetzt werden können. Liegt es am Personal?

Ingmar Niemann: „Das sicher auch, aber vor allem besetzen inzwischen fast alle Parteien soziale Themen. Selbst die FDP hat inzwischen ein ausgeprägtes soziales Gewissen entwickelt, mit dem sie Wähler für sich gewinnen will. Die Linke wird schlicht und einfach nicht mehr gebraucht, nicht mehr als Vertretung der Menschen in den neuen Bundesländern (dies macht jetzt wesentlich erfolgreicher die AfD), noch als linkes Sammelbecken enttäuschter SPD-Wähler (dies machen wesentlich erfolgreicher die Grünen). Ich gehe davon aus, dass die Linke in Zukunft keine wesentliche Rolle bei der politischen Willensbildung im Land mehr spielen wird."

TRENDYone: Herr Niemann, vielen Dank für das Interview.