Wohnungsbau – droht der sozialpolitische Kollaps?

Allgäuer Hochschuldozent zur Krise der Wohnbauwirtschaft

Der Universitäts- und Hochschuldozent Ingmar Niemann (u.a. Hochschule Kempten, TU München) analysiert für TRENDYone die Krise beim Wohnungsbau.

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Der Universitäts- und Hochschuldozent Ingmar Niemann (u.a. Hochschule Kempten, LMU München) analysiert für TRENDYone die Krise beim Wohnungsbau.Bild: Jörg Spielberg
Vision 400.000

Das Land zu modernisieren, Defizite der Vergangenheit auszugleichen, das waren die Vorsätze der Ampel-Koalition zu Beginn ihrer Regierungszeit 2021. Wie groß war die Euphorie, wie selbstsicher war der Beschluss, wir schaffen den Bau von 400.000 Wohnungen pro Jahr! Nichts ist unmöglich! Unmöglich deshalb, weil nie zuvor in einem Jahr 400.000 Wohnungen gebaut worden waren! Im letzten Jahr der Regierungszeit von Angela Merkel (2020) waren es immerhin gut 300.000 Wohnungen, eine Rekordzahl, die in den zwanzig Jahren zuvor nie erreicht worden war. (Siehe dazu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/39008/umfrage/baufertigstellungen-von-wohnungen-in-deutschland/)
Die Erwartungshaltung mal eben so die Bautätigkeit um 1/3 zu erhöhen, zeigt den fehlenden Realismus der Ampel-Koalitionspartner, der die Baupolitik in dieser Legislaturperiode von Anfang an prägt. Zeit für ein paar unangenehme Fakten.

Vorboten der sozialen Krise

Stark steigende Baukosten bei immer weniger Bauunternehmen wird die Inflationsrate in dieser Branche länger anheizen als es gesellschaftspolitisch zu tolerieren wäre. Immerhin waren die Baupreise 2021 bereits um 9,1 % gestiegen und 2022 um weitere 16,4 %! Der Markt, der belastet durch hohe Zinsen und immer größerer rechtlicher Einschränkungen, reagiert nicht mehr angemessen auf die hohe Nachfrage. Komplexe Baustandards, Rückgang des Sozialwohnungsbestandes, der Trend zu Singlehaushalten, hohe Zuwanderungsraten sowie die immer größer werdende Zahl von in der Regel Gutverdienern, die Jahr für Jahr zu hunderttausenden das Land verlassen (2022: 270.000!), führen zu dramatischen Verschiebungen auf dem Immobilienmarkt. Im Hochpreissegment, das vorzugsweise aufgrund der höheren Gewinnmargen von den Bauunternehmen angestrebt wird, gibt es immer weniger Kunden, und diese dazu sehr oft noch aus dem Ausland, die investieren können. Die Masse der Wohnungssuchenden bleibt auf der Strecke und ihre Zahl steigt Jahr für Jahr! Mehr als 700.000 Wohnungen fehlen derzeit, so die Schätzungen, etwa 10 % mehr als noch ein Jahr zuvor. Hinzu kommt die Zahl von fehlenden altersgerechten Wohnungen: In etwa drei Millionen Haushalten, so hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) festgestellt, lebten 2022 Menschen, die wegen Krankheit oder Alter nur eingeschränkt beweglich waren.
Das trotz Verlängerung der Mietpreisbremse bis 2029, wie die Koalition es beschlossen hat, oder der Forderung nach qualifizierten Mitspiegeln in Großstädten, die Mieten dennoch massiv steigen werden, ist daher absehbar. Insbesondere wenn sich der Neubau aufgrund der dargestellten Rahmenbedingungen für Investoren nur noch lohnt, wenn der Mietzins auf mindestens € 17 bis € 20 Euro (kalt) pro qm steigt! Die Basis für unser Gemeinwesen steht damit in Frage. Ohne Wohnraum keine Lebensgestaltung, keine Lebensperspektive! Der Wohnungsbau ist die sozialste Frage unserer Zeit!

Wie konnte es dazu kommen?

Trotz deutlich steigender Ausgaben im Sozialbereich wurde die Förderung von Immobilien in den letzten 20 Jahren sträflich vernachlässigt. Die letzten steuerlichen Fördermaßnahmen wurden Ende 2004 von der ersten rot-grünen Koalition eingestellt (abgesehen von der linearen AfA in Höhe von zwei Prozent). Die Investoren aber vor allem auch Privatleute waren von da an auf den Markt und seine Konditionen angewiesen. Die Folge: Stark rückläufige Bautätigkeit am Ende des ersten Jahrzehnts in diesem Jahrhundert auf nur noch etwa 160.000 Einheiten pro Jahr. Die Konsequenz: Die Wohnungseigentumsquote liegt in Deutschland knapp unter 50% (2021: 49,5 %), während in fast allen anderen Ländern Europas – mit Ausnahme der Schweiz - die Quote deutlich höher liegt. Neben dem Problem der Wohnungslosigkeit sowie der nicht adäquaten Nutzung von Wohnungen, kommt jetzt auch das Problem der Mietkostenexplosion hinzu, dass nicht nur Arbeitnehmerhaushalte bald mit 40 bis 60 % ihres Einkommens belasten, sondern auch den Lebensstandard der Rentnerhaushalte mit ihren in Deutschland vergleichsweise geringen Renten erheblich einschränken wird.
Wer im Alter nicht miet- und/oder zinsfrei wohnt hat in Deutschland ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko!

Die Bundesregierung ohne Mut

Trotz immer wiederkehrender Bekundungen zur Förderung des Wohnungsbaus agiert die Bundesregierung zu zögerlich und wenn dann nur halbherzig. Die Erhöhung der linearen AfA von 2 auf 3 % So hat sich das Kabinett auf seiner Klausurtagung in Meseberg Ende August 2023 darauf geeinigt, Wohngebäude, die zwischen dem 30.09.2023 und dem 01.10.2029 errichtet werden, eine Sonderabschreibung (degressive AfA) von sechs Prozent auf sechs Jahre einzuführen, um die steigenden Zinsen in der Bauindustrie zumindest zum Teil auszugleichen. Ansatzweise ist dies sicher richtig, doch zu kurz gesprungen: Da Investoren meist von einer zehn-Jahres-Dauer bei einer Immobilienanschaffung ausgehen - um die Spekulationssteuer zu vermeiden - wäre ein Abschreibungszeitraum in dieser Größenordnung sicher überzeugender und gleichzeitig attraktiver gewesen.
Darüber hinaus zeigt auch der Etat für das Wohnungsbauministerium im Bundeshaushalt für das kommende Jahr in Höhe von knapp sieben Milliarden Euro, dass – trotz vieler kleiner, zusätzlicher Fördermittel in anderen Etats – der Bau von Wohnungen nicht im Zentrum des Interesses der Bundesregierung liegt.

Lösungsansätze gibt es viele – es scheitert an der Umsetzung

Vieles ist im Gespräch: Mehr Bauland genehmigen, scheitert meist an den Kommunen, da damit auch der Ausbau von Infrastruktur notwendig ist, und diese ist teuer!
Aufstocken, umwandeln, verdichten - diese Maßnahmen finden nach jahrelanger Umsetzung inzwischen ihre Grenzen. Günstiger Bauen, machbar, nur mindert Qualität und Nachhaltigkeit der Langlebigkeit der Gebäude. Mehr Sozialwohnungen bauen, scheitert meist am Management und den Fördermitteln: 2022 sind gerade mal € 750 Millionen in den Sozialwohnungsbau geflossen, dieses Jahr sind es € 1.28 Mrd., ein Tropfen auf dem heißen Stein!

Was ist zu tun?

Nicht alles muss neu erfunden werden, meist reicht ein Blick in die Vergangenheit oder in vergleichbare Länder mit ähnlichen Problemen, um sinnvolle Lösungsansätze zu finden:
Zunächst bedarf es einer Grundgesetzänderung. Statt 16 Landesbauordnungen mit teils ganz unterschiedlichen Inhalten, braucht es ein einheitliches Bundesbaugesetz, das dem Bund die alleinige Zuständigkeit zuweist. Nur so können die ca. 20.000 Bauvorschriften, die es heute gibt, wieder auf ein vernünftiges Maß wie im Jahr 1990 reduziert werden. Damals gab es nur 5.000 Vorschriften und trotzdem wurde weitgehend solide gebaut.
Bezahlbare Mieten sind letztlich nur durch eine höhere Bautätigkeit erreichbar. Ohne staatliche Unterstützungsmaßnahmen sind diese aber derzeit nicht zu erzielen. Dennoch wissen wir aus der Nachkriegszeit, wie schnell für Millionen von Menschen Wohnraum geschaffen werden konnte. Wohnungsbaugenossenschaften und kommunale Wohnungsbaugesellschaften leisteten diesen historischen Beitrag und könnten auch im 21. Jahrhundert wieder eine Schlüsselrolle bei der Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum übernehmen. Doch trotz des Genossenschaftsgesetzes aus dem Jahr 2006 mit dem Ziel, diese Gesellschaften der Zahl und ihrem Engagement nach, zu fördern, sinkt der Anteil der Genossenschaftswohnungen am Gesamtmarkt. Etwa fünf Millionen Menschen leben heute in einer Genossenschaftswohnung. Es könnten erheblich mehr sein, wenn wir das Bewusstsein für ein gesellschaftliches und politisches Engagement im nachhaltigen Sozialbau stärken würden. Eine Renaissance des gemeinnützigen Wohnungsbaus ist das Gebot der Stunde, unterstützt vom Staat mit niedrigen Zinsen der KfW, und der Lockerung von Auflagen, nicht nur beim Bau, sondern auch für die Inanspruchnahme der Wohnungen für Normalverdiener! Was in anderen Ländern und Städten (wie z.B. in Wien) funktioniert, muss in Deutschland nicht scheitern. Wir schaffen das!