Kemptener Politikwissenschaftler analysiert die Wahl in Frankreich

Monsieur le Président oder Madame la Présidente?

Vielen Politikinteressierten im Allgäu ist Ingmar Niemann als ein exzellenter Kenner der internationalen Politik bekannt. Seine Vorträge in der Hochschule Kempten stoßen auf großes Interesse und sind gut besucht. Wann immer es um Fragen rund um Aussenpolitik geht, wird seine Einschätzung nachgefragt. Für TRENDYone beantwortet Ingmar Niemann die wichtigsten Fragen zur anstehenden Präsidentschaftswahl in Frankreich.

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Der bekannte Politikwissenschaftler und Dozent der Hochschule Kempten Ingmar Niemann beleuchtet die französische Präsidentschaftswahl.Bild: Jörg Spielberg
Ingmar Niemann, Jahrgang 1966, deutsches und amerikanisches Abitur, studierte Politikwissenschaften, Philosophie, Japanologie, und Rechtswissenschaften an der LMU München. Ingmar Niemann ist langjähriger Lehrbeauftragter für Internationale Politik an der Hochschule München, Dozent für Asienkunde an der Technischen Universität München sowie für Globalisierungsprozesse, internationale Finanzmärkte, Unternehmensethik und Versicherungslehre an mehreren bayerischen Hochschulen (u.a. Hochschule Kempten).

1. Welche Themen haben den Wahlkampf 2022 bewegt und über welche Inhalte streiten sich die verbliebenen zwei Kandidaten, Emanuel Macron und Marine Le Pen, vor der Stichwahl am 24.04.2022?

Wirtschaftliche und sozialpolitische Fragen standen während des kurzen aber heftigen Wahlkampfs im Mittelpunkt, ergänzt durch die von der extremen Rechten aufgeworfenen Fragen zum Thema „Migration“. Marine Le Pen fokussierte sich auf die durch die hohe Inflation bedrohte Kaufkraft der Unter- und Mittelschicht des Landes, während Macron, der in den letzten Jahren von einem Großteil der Bevölkerung als „Präsident der Reichen“ wahrgenommen wurde (Gelbwestenproteste etc.), sich in der Position als Amtsinhaber mehr als „Krisenmanager im Ukraine-Krieg“ präsentierte. Während Le Pen die nationale Karte spielte, betonte Macron die Bedeutung Europas für die politische Ausrichtung der französischen Politik, einschließlich der Vision einer EU-Armee.


 
2. Wer gewinnt am 24. April? Macron oder Le Pen?

Le Pen hat zwar 30 % der Wählerstimmen aus dem 1. Wahlgang sicher (ihre und die von Eric Zemmour), aber Macron hat deutlich bessere Chancen die notwendigen 50 % zu erreichen, da sich fast alle Kandidaten der Linken und des bürgerlichen Lagers für ihn in der Stichwahl ausgesprochen haben. Doch sicher ist nichts: schon 2005 haben die Bürger Frankreichs mit 54, 7% in einer Volksabstimmung über die Verfassung Europas ihren Unwillen über eine Stärkung der EU zum Ausdruck gebracht. Gleiches ist am 24. April nicht auszuschließen.
 
3. Wie kam es in Frankreich zum beispiellosen Niedergang der beiden großen Volksparteien der Sozialisten und der Konservativen?

Politik an der Bevölkerung vorbei, wenig überzeugendes Personal, keine nachhaltigen Lösungen gesellschaftlicher Probleme, die Gründe sind vielseitig, doch nicht allein auf Frankreich bezogen. Auch in anderen Staaten der EU, allen voran Italien, sind die klassischen Parteien in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. An ihre Stellen sind „Bewegungen“ getreten, die eine Person oder ein Thema vorantreiben. Die vier Erstplatzierten der Präsidentschaftswahl sind auf diesem Wege ins Ziel gekommen. Insgesamt haben sich 80 % der Wähler für Kandidaten solcher Bewegungen ausgesprochen. Eine Entwicklung, die in den nächsten Jahren sicher auch die Bundesrepublik Deutschland erreichen dürfte!
 
4. Welcher Präsidentschaftskandidat bedeutet was für Deutschland?

Le Pen hat mit ihrer Kritik an der deutschen Energiepolitik auch die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen für die Zukunft in Frage gestellt und die nationalen Interessen Frankreichs in den Mittelpunkt gerückt. Macron wird seine europafreundliche Politik beibehalten, aber in der Zukunft weniger auf Berlin als mehr auf Rom oder Madrid hören. Seit dem Brexit haben die südlichen Staaten der EU immerhin eine Entscheidungsmehrheit in der Europäischen Union, so dass es auf Berlin nicht mehr so ankommt. Mit einer Erweiterung und Verstetigung der EU-Schuldenpolitik ist daher aufgrund der längerfristigen Pandemiefolgen und des Ukraine-Krieges zu rechnen, zu Lasten wirtschaftlich stabilerer Staaten.