Universitäts- und Hochschuldozent Ingmar Niemann gibt Antworten

Der Konflikt um den Donbass!

TRENDYone: Herr Niemann, derzeit findet eine Kesselschlacht im Osten der Ukraine um die Vorherrschaft im Donbass statt. Präsident Selenski sagt, sie wird entscheidend für die Region, wenn nicht sogar für die Ukraine sein. Wie ist die Lage?

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Ingmar Niemann ist Universitäts- und Hochschuldozent in München, Kempten und Budapest und profunder Kenner Internationaler Politik.Bild: Jörg Spielberg
Ingmar Niemann: Die strategische Situation der ukrainischen Kräfte ist schwierig. Sie werden von den russischen Truppen von drei Seiten attakiert, von Norden, Süden und Osten.
Im Zentrum des russischen Angriffs stehen die Städte Sjewjerodonezk, ihre Zwillingsstadt Lyssytschansk - auf der anderen Seite des Flusses Siwerskyi Donez - und die etwa 50 km weiter im Westen liegende Stadt Slowjansk. Derzeit ist das ukrainische Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk bereits zu 2/3 unter russischer Kontrolle, ca. 90% der Gebäude der Stadt sind beschädigt, bei etwa 60 % der Häuser dürfte sich der Wiederaufbau nicht lohnen. Eine Geisterstadt, auch, weil sich von den 100.000 Einwohnern nur noch etwa 12.000 in der Stadt befinden.



TRENDYone: Warum handelt es sich hier um eine so wichtige strategische Lage?

Ingmar Niemann: Mit der Einnahme von Sjewjerodonezk und ihrer Zwillingsstadt Lyssytschansk würden die russischen Truppen den gesamten Oblast Luhansk kontrollieren, also eine der beiden Verwaltungsbezirke im Donbass-Gebiet. Gleichzeitig würden sie mit der Eroberung der Stadt Slowjansk und der ihr naheliegenden Stadt Kramatorsk wichtige Industriezentren und Verkehrsknotenpunkte erobern, die die Schlüsselregion zur Eroberung des Oblast Donezk darstellen. Damit wäre dann der gesamte Donbass mit beiden Verwaltungsbezirken in russischer Hand.

TRENDYone: Warum ist die russische Armee inzwischen so erfolgreich? Zu Beginn des Krieges hatte man den Eindruck, sie sei führungslos und schlecht auf die militärischen Auseinandersetzungen eingestellt!

Ingmar Niemann: Die russischen Armeeführung hat inzwischen erkannt, dass die Eroberung der Ukraine kein Spaziergang mehr sein wird. Sowohl logistisch wie auch militärtechnisch ist man inzwischen wesentlich besser aufgestellt. Kein Wunder, denn inzwischen befindet sich etwa ¾ der gesamten russischen Armee einschließlich ihrer Luftwaffe in und im Umfeld der Ukraine. Darüber hinaus findet ein massiver Einsatz von ballistischen Raketen statt, die überall entlang der ukrainischen Grenze in Stellung gebracht wurden. Dabei handelt es sich um Iskander-M Raketen, die mit 700 bis 800 kg Streumunition oder Nukleargefechtsköpfen bestückt werden können. Sie haben eine Reichweite von 500 km, allerdings keine hohe Treffsicherheit. Etwa die Hälfte der Raketen trifft ihr Ziel nur in einem Zielumfeld von 170 Metern. Es überrascht daher nicht, dass auch viele zivile Gebäude und Einrichtungen getroffen werden.
Trotzdem zerstören viele russische Raketen ukrainische Waffenlager, Treibstoffdepots, Kasernen sowie die ukrainische Kommandostruktur. Die Frontlinien werden mit permanentem Artilleriefeuer aus 30 bis 40 km Entfernung belegt. Nachts werden die Angriffe sogar noch mit Bomben und Raketen verstärkt, während bei Tag die russische Infanterie auf ukrainische Stellungen vorrückt. Es wundert daher nicht, dass bei diesem Horrorszenario die ukrainische Armee inzwischen hohe Verluste an Soldaten und Material zu verzeichnen hat.

TRENDYone: Was können wir tun, um der Ukraine in dieser schwierigen Situation zu helfen?

Ingmar Niemann: Militärische Hilfe kommt im Falle der Schlacht um den Donbass zu spät, vor allem deshalb, weil inzwischen die Transportwege in der Ukraine von Russland weitgehend ausgeschaltet worden sind. Bereits in Lwiw und Kiev werden große Waffenlager der ukrainischen Armee mit Raketenangriffen „erfolgreich“ vernichtet. Die Eisenbahnlinien in die beiden umkämpften Verwaltungsbezirke im Osten sind schon länger nicht mehr ausreichend transportfähig, die Straßen kaum noch für Lkw-Transporte zu gebrauchen. Luftfracht, teuer, aber schnell ins Zielgebiet zu bringen, ist bis vor kurzem noch im Hinterland möglich gewesen, dürfte aber inzwischen auch von russischen Raketen unterbunden worden sein. Es gilt daher, jetzt andere in absehbarer Zeit umkämpfte Regionen mit ausreichend Waffen zu versorgen, damit es nicht wieder zu einer solchen katastrophalen Lage kommt!

TRENDYone: Unterstützt Deutschland die Ukraine diesbezüglich ausreichend?

Ingmar Niemann: Deutschland hat die sogenannte Panzer Haubitze 2000 im Angebot, das Iris-T Flugabwehrsystem, das eine ganze ukrainische Großstadt schützen kann bzw. ukrainische Gefechtsstellungen. Auch ein Ortungsradar zur Zielerfassung für die Artillerie wird geliefert. Das ist alles hilfreich, wird nur eben sehr spät in Bezug auf den Kriegsverlauf, geliefert. Kriegsentscheidend werden diese Waffen nicht sein, da sie weitgehend defensiv ausgerichtet sind. Die Ukraine benötigt Offensivwaffen, um die russische Aggression zurückschlagen und Gebiete zurückerobern zu können. Dabei geht es in erster Linie um Raketenwerfer, wie den Mars II, der als Mehrfachraketenwerfer 12 Flugkörper in 60 Sekunden abschießen und neben dem M142 HIMARS Mehrfach-Raketenwerfer der USA zum Gamechanger werden kann. Mit Atcams-Kurzstreckenraketen bestückt können diese Waffen sogar wichtige Militärflughäfen in Russland erreichen, da diese eine Reichweite von etwa 300 km haben. Das ist aber auch gleichzeitig das Problem: Mit der Lieferung von Waffen, die Russland erreichen und dort erhebliche Zerstörungen anrichten können, befürchten die liefernden westlichen Staaten von Russland als Kriegspartei betrachtet zu werden. Daher haben die USA auch der Ukraine vorgeschrieben, die gelieferten Atacams nicht für den rückwärtigen Raum des Gegners mit einzubeziehen.

Derzeit haben die USA 4 dieser Mehrfachraketenwerfer geliefert, Deutschland wird nach derzeitigem Stand auch nur 3 liefern, obwohl bereits 4 zugesagt waren. Doch diese kleine Zahl an wirksamen Waffen, wird den Krieg nicht nachhaltig beeinflussen. Die Ukraine bräuchte 48 HIMARS Mehrfach-Raketenwerfer mit ca. 4000 bis 5000 Raketen für erfolgreiche Maßnahmen gegen Russland. Von diesen Liefermengen ist der Westen derzeit weit entfernt. Frühestens Mitte August, so schätzen ukrainische Analysten, wird man in der Lage sein mit ausreichend Material gegen Russland vorzugehen. Spätestens dann rechnet man auch mit dem Schützenpanzer Marder und ähnlich schwerem Kriegsgerät, die derzeit noch zum Zwecke der Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland sind. Für die Verteidigung des Donbass wird dies allerdings zu spät sein.
Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass die westliche Allianz sehr viel Geld für humanitäre Zwecke aufwendet. Und da es um unschuldige, meist verzweifelte Menschen geht, kann dies gar nicht als wichtig genug erachtet werden.

TRENDYone: Klingt derzeit nicht gerade beruhigend! Aber beeinflussen wir denn nicht durch unsere Boykott-Maßnahmen den Kriegsverlauf, insbesondere dann, wenn es um Erdöl oder Erdgas geht?

Ingmar Niemann: Der Erdölboykott der Europäischen Union ist ein „Witz“, anders kann man es nicht bezeichnen. Wir schaden uns damit mehr, als es Russland schadet:

1. Er ist nicht vollständig. Er bezieht sich lediglich auf Erdölimporte aus Russland von See, Lieferungen über Erdölpipelines sind davon ausgeschlossen. Ungarn, Slowakei und Bulgarien werden daher noch lange Erdöl über ihre Pipelines beziehen können.

2. Russland hat den Erdöllieferungsausfall längst kompensiert: Serbien und vor allem Indien sind hier die neuen bzw. größeren Abnehmerländer. Der Subkontinent hat vor dem Kriegsbeginn 30.000 Barrel Öl pro Tag von Russland gekauft, jetzt sind es etwa 800.000 Barrel pro Tag. De facto ist damit die Nachfrage nach Öl seit dem Kriegsbeginn sogar gestiegen, da der EU-Erdölboykott per Schiff erst Ende des Jahres vollständig zum Tragen kommt.

3. Da mit der Boykottankündigung auch der Erdölpreis an den Weltmärkten gestiegen ist, nimmt Putins Russland heute deutlich mehr Geld für den Export von Erdöl ein als vor dem 24. Februar.
4. Wir werden voraussichtlich in Zukunft auch „indisches“ Erdöl kaufen, zu dann allerdings deutlich höheren Preisen. Das auch deshalb, weil die Lieferung von Indien über See kostenintensiver ist als die Verwendung der russischen Pipelines.

Schon jetzt läuft die russische Wirtschaft wieder so „gut“ wie vor dem Krieg, wenn nicht sogar noch besser. Die EU wird allerdings weiterhin mit steigenden Preisen zu tun haben, da die fossilen Brennstoffpreise immer teurer werden.

Und was das Erdgas betrifft, so bremst der Kreml bereits jetzt die Lieferungen in die EU. Und das in einer Situation, in der wir nach wie vor angewiesen sind auf das Gas aus Russland. Eine Rezession dürfte daher kaum noch zu vermeiden sein, mit allen sozialen und finanziellen Folgen, die ein Konjunktureinbruch mit sich bringt.

TRENDYone: Herr Niemann, wir danken Ihnen für das Gespräch.