Was ein Politik-Experte und eine Allgäuer Politikerin dazu sagen

»Die Wahlrechtsreform«

Die Bundesregierung hat mit einfacher Mehrheit ihre Wahlrechtsreform im Deutschen Bundestag durchgebracht. TRENDYone sprach mit dem Kemptener Hochschuldozenten Ingmar Niemann über diese Reform und ihre möglichen Auswirkungen auf die Demokratie. Im Anschluss lesen Sie zur Wahlrechtsreform eine Stellungnahme der Allgäuer Bundestagsabgeordneten Mechthilde Wittmann von der CSU.

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Die Bundesregierung hat ihre Wahlrechtsreform im Bundestag beschlossen. Verlierer dieser Reform drohen mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.Bild: Pixabay
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TRENDYone: Sehr geehrter Herr Niemann, die Ampel-Koalition hat in den letzten Tagen im Eiltempo ein neues Wahlrechtsgesetz durch den Bundestag gedrückt. Ist es auch Ihrer Sicht gelungen?

Ingmar Niemann:Das Gesetz war überfällig, das Bundesverfassungsgericht hatte ja schon mehrfach Korrekturen angemahnt, diese wurden nun in einem großen Wurf erledigt, doch dieser ist eben auch sehr politisch ausgefallen. 
Die Bundesrepublik zeichnete sich bisher u.a. dadurch aus, dass sich das Wahlrecht nicht nach den jeweiligen politischen Mehrheitsverhältnissen ändert. So wurde der Versuch der Union am Ende der Großen Koalition 1968/69 ein Mehrheitswahlsystem einzuführen von der mitregierenden SPD abgelehnt, die daraufhin eine sozialliberale Koalition mit der FDP einging und ihr somit auch die Existenz im bewährten Wahlsystem rettete. Weitergehende Veränderungen gab es dann auch bis auf die letzte Dekade nicht, was zu weitgehend stabilen politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik beitrug. Das Prinzip der Übereinkunft von Regierung und Opposition in wesentlichen staatsrechts- und grundrechtlichen Bereichen wird daher derzeit mit Füßen getreten. Zu eindeutig der Versuch auf dem Wege des Wahlrechts die Linkspartei politisch zu eliminieren und die CSU zumindest – ggf. über eine gemeinsame Liste mit der CDU so das derzeitige Vermittlungsangebot - sichtbar auf eine „kleine politische Regionalpartei“ zu schmälern, was dem Selbstverständnis dieser Partei aber auch ihrer historischen Bedeutung für die Bundesrepublik widerspricht. 

TRENDYone: Warum könnte denn die Linke auf diesem Weg politisch aus dem Bundestag ausgeschlossen werden?

Die Linke hat bei den letzten Bundestagswahlen mehrfach von der Grundmandatsklausel Gebrauch gemacht, nach der eine Partei, die weniger als 5% der Zweitstimmen erzielt, dennoch so viele Abgeordnete im Bundestag erhält, wie es dem Anteil ihrer erzielten Zweitstimmen entspricht - sofern sie mindestens 3 Wahlkreise direkt gewinnt. Nach der jetzt vorgenommenen Abschaffung dieser Klausel wäre die Linke schon bei der letzten Bundestagswahl nicht mehr ins Parlament eingezogen und wird sich in Zukunft sicher schwer tun, diese Hürde von 5 % zu überwinden. Denn SPD und Grüne drängen mit diesem Vorgehen den/die bisherige(n) Linke-Wähler-innen dazu, sich zu fragen, ob er seine / ihre Stimme wirklich verschenken will, wenn die Links-Partei die 5% – wie eben schon öfter - nicht reicht. So sichern sich diese zwei Partei einen Großteil der bisherigen Wählerschaft der Linken.

TRENDYone: Was bewerten Sie denn positiv an dem neuen Gesetz?

Die Vereinfachung des Wahlrechts, dadurch auch die verständlichere Gestaltung des Prozesses, wie dies auch das Bundesverfassungsgericht im August 2021 anmahnte, sowie die Verringerung der maximalen Zahl der Sitze im Deutschen Bundestag. Aber auch hier ist die Ampel nicht konsequent gewesen: Statt die Zahl der Mandate auf die ursprünglichen 598 Sitze zu reduzieren (299 Wahlkreisabgeordnete, 299 Listenkandidaten) wurde die Zahl der ausschließlich über die Zweitstimme ins Parlament gewählten Listenkandidaten um 32 Sitze erhöht. So sind es jetzt doch in Zukunft 630 Abgeordnete, die nicht mehr paritätisch zwischen Wahlkreis- und Listenmandaten aufgeteilt werden. Ein weiterer Bruch mit den Grundsätzen des bisherigen Wahlrechts und vor allem mit der Geschichte unseres Landes, denn nach dem Krieg haben die Väter unserer zweiten deutschen Demokratie vor der Wiedereinführung des Verhältniswahlrechts, wie es in der Weimarer Republik gegeben war, eindringlich gewarnt. Sie sahen darin einen wesentlichen Beitrag für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie nach dem ersten Weltkrieg: Parteienzersplitterung, Koalitionsquerelen, Instabilität und Radikalisierung. Nichts was sich wiederholen dürfe. Daher wurde das Verhältniswahlrecht eingeschränkt durch eine Persönlichkeitswahl nach relativer Mehrheit in Einpersonenwahlkreisen. Die Bundestagsmandate waren damit paritätisch seit 1953 zu 50/50 zwischen Wahlkreisen und Listen verteilt. Eine jetzige deutliche Verstärkung der Listenmandate auf der Basis des Verhältniswahlrechts ist damit auch ein Schritt zurück in Richtung Weimar.

TRENDYone: Was ist denn so schlecht am Verhältniswahlrecht bzw. Warum befürworten Sie das Wahlkreismandat?

In der Weimarer Republik kamen die allermeisten Abgeordneten des Reichstags aus urbanen Regionen. Die Folge war, das Teile des Reiches keinen Abgeordneten vor Ort hatten, der sich um die Bevölkerung kümmerte bzw. diese im Parlament vertrat. Meist gelang es radikalen politischen Kräften in diesem Umfeld erfolgreicher aufzutreten und höhere Wahlergebnisse zu erzielen, als den demokratischen Parteien. Ein Wahlkreisabgeordneter ist eben vor Ort bekannt, ansprechbar und Teil einer lebendigen repräsentativen Demokratie, die er selbst mit gestaltet, auch um direkt wieder ins Parlament gewählt werden zu können. Abgeordnete, die über die Liste ins Parlament gelangen, brauchen lediglich die notwendige Unterstützung der Partei, werden sich daher vorwiegend um ihr Image in Selbiger kümmern und Parteiveranstaltungen den Vorzug vor öffentlichen kommunalen Ereignissen geben. Und schon öfter wurde die Kandidatenliste in der Vergangenheit im Hinterstübchen der Parteivorderen zusammengestellt und danach vom Parteitag abgesegnet, anstatt einer Persönlichkeitswahl den Vorzug zu geben. Daher sind auch die meisten Listenkandidaten ab Listenplatz 4/5 oft weit weniger bekannt als die Direktkandidaten vor Ort.

TRENDYone: Wird es bei neuen Mehrheitsverhältnissen nach der nächsten Bundestagswahl zu erneuten Wahlrechtsänderungen kommen?

Das ist nicht auszuschließen. Die Union wird sich mit diesen Rahmenbedingungen kaum zufrieden geben. Der Weg nach Karlsruhe ist vorgezeichnet. Doch sollte dies im Kern erfolglos sein, ist eine erneute Wahlrechtsreform wahrscheinlich. Vielleicht fällt der christlichen Volkspartei dann wieder ihr Vorschlag aus dem Jahr 1968/69 ein, ein absolutes oder relatives Mehrheitswahlrecht einzuführen, so wie es viele europäische Demokratien u.a. auch die älteste Demokratie der Neuzeit Großbritannien praktizieren. Verfassungshistorisch – und das Wahlrecht stellt ein Teil der verfassungsrechtlichen, politischen Realitäten dar – ist das neue Gesetz ein Schritt zurück in Richtung Weimar.

Stellungnahme von Mechthilde Wittmann, CSU Bundestagsabgeordnete des Wahlkreis 256 Oberallgäu, Kempten und Lindau

Bisher war jede Region in Deutschland sicher im Deutschen Bundestag vertreten. Wichtig war dabei, dass die Menschen vor Ort entschieden haben, wem sie am ehesten zutrauen, ihre Anliegen zu vertreten. Künftig gilt das nicht mehr. Erzielt die Partei insgesamt weniger Prozent als von den Direktmandaten abgedeckt, so wird den Direkt-Gewinnern, die im Vergleich weniger Prozent erzielt haben, ihr soeben von den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort zugesprochenes Mandat wieder entzogen, bis die nach Gesamtprozentzahl der Partei erzielten Mandate durch Aberkennung erreicht sind. Damit müsste aber verbunden sein, dass die Wahlkreise ja völlig vergleichbar sein müssen, um gerecht zu entscheiden, wer sein Mandat eben nicht erhält, weil er ein geringeres Ergebnis erzielt hätte. Derzeit aber differieren die Wahlkreise um bis zu 25%! Das würde bedeuten, dass quasi alle Wahlkreise neu und absolut vergleichbar zugeschnitten werden müssten. Und schließlich kann es sein, dass in einem Wahlkreis 2 Gegenkandidaten und in einem anderen 15 Kandidaten gegeneinander antreten und somit eine völlig andere Konkurrenzsituation besteht. Damit ist gerade keine Chancengleichheit gegeben. Die Simulation auf „election.de" zeigt, dass annähernd ausschließlich Unions-Mandate nicht mehr zugeteilt werden. Die willkürliche Erhöhung der Mandatszahl von 598 auf 630 durch die Ampel diente alleine dazu, die bei den Ampelparteien, vor allem SPD, ggf. wegfallenden Direktmandate zu minimieren, wie eine weitere Simulation zeigt.

Weiteres Problem: Mit diesem Konzept könnte auch gar kein Kandidat vor Ort zum Zuge kommen, auch nicht von einer anderen Partei. Wenn Sie sich derzeit die Ergebnisse der FDP anschauen, könnte das bedeuten, dass das Direktmandat der CSU (soweit erneut errungen) wieder aberkannt wird und der derzeitige FDP Kollege ebenfalls nicht mehr vertreten sein könnte, wenn die FDP an der 5% Sperrklausel scheitern würde.

Bis vor kurzem war ferner vorgesehen, die Grundmandatsklausel unverändert zu belassen. Das hätte bedeutet, dass zwar Direktmandate entzogen werden, wenn die Partei landesweit nicht ebenso viele Prozentpunkte erhält, um alle zu decken, gleichzeitig aber bei dem Gewinn von nur 3 Direktmandaten eine Partei mit einer hohen Anzahl weiterer Listenmandate in den Bundestag einzieht, obwohl sie die 5% gar nicht erreicht hat. Diese Kombination wäre nach meiner Auffassung systemwidrig gewesen. Allerdings beschreibt das Bundesverfassungsgericht die Zweckmäßigkeit der Grundmandatsklausel: nämlich auch Regionen abzubilden, die zu einen bestimmten Teil der Bevölkerung abbilden, gleichwohl dies im Rest der Republik so nicht zum Tragen kommt. Dies sei zu berücksichtigen - gilt aber dann insbesondere auch im Süden der Republik, wo dies vollkommen offenkundig ist.

Nunmehr streichen die Regierungskoalitionen die Grundmandatsklausel und dies - so ihre eigenen Aussagen, vgl. Protokoll der heutigen Plenarsitzung (Britta Haßelmann, Konstantin von Notz, Bündnis’90/Die Grünen; Konstantin Kuhle, FDP) und der Sitzung des InnenA vom 15.3. ausdrücklich (!) weil sie nicht einsähen, dass eine Regionalpartei wie die CSU im Parlament sitzt. Das könnte also zur Folge haben, dass die CSU zwar alle 46 Mandate in Bayern direkt gewinnt - Wille des Wählers vor Ort, der seine Kandidaten auswählt - aber bundesweit nur 4,99% der Stimmen erringt (in Bayern ca. 30% - immerhin, das hat keine der im Bundestag vertretenen Parteien geschafft) und damit alle (!) 46 direkt gewonnenen Mandate aberkannt werden zugunsten von Listenkandidaten anderer Parteien.

Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die Ampelparteien, die seit diesem „Augenblickspeak“ am 26.9.2021 weder zuvor noch danach diese Werte erreichen konnten, nunmehr versuchen den erneuten Verlust der gerade lieb gewonnenen Macht mit allen Mitteln, auch der Manipulation des Wahlrechts, zu erhalten.

Ferner sieht das Grundgesetz - das über allen „einfachen“ Gesetzen, wie auch dem Bundeswahlrecht steht - keine Höchstzahl der Sitze im Bundestag vor. Aber es beschreibt unmißverständlich die „Unmittelbarkeit“ der Wahl. Mithin wäre der Entzug eines unmittelbar gewählten Mandats nach meiner Auffassung verfassungswidrig, denn die dann zum Zuge kommenden „Ersatz-Listenkandidaten“ werden alleine von Parteidelegierten bei Aufstellung der Wahl bestimmt, die ihrerseits noch nicht einmal durch die Bürgerinnen und Bürger gewählt sind. Damit sind wir von einer Unmittelbarkeit weiter entfernt, als z.B. die USA mit dem Wahlmänner/-frauen-System - und genau gegen dieses wendet sich das Grundgesetz mit der Festlegung der Unmittelbarkeit.

Ja, der Bundestag MUSS verkleinert werden. Wünschenswert wäre dabei sicher, dass insbesondere Mandate wegfallen, die von Personen eingenommen werden, die mangels Berufsausbildung, Beruf oder wenigstens Lebenserfahrung nur bedingt einen kompetenten Beitrag leisten können und ohne das Mandat mit deutlich weniger Geld auskommen müssten - dies ist ein besonderes Phänomen der Ausgleichsmandate bei den Ampelparteien. Tatsächlich soll der Bundestag mit demokratischen Regeln verkleinert werden, die den Wählerwillen abbilden und ohne, dass Millionen Stimmen nach dem Willen der Ampelparteien einfach nicht gezählt werden. Dies ist aber mit dem vorliegenden Vorschlag der Fall. Dieses Vorgehen zeigt dem Bürger auf, dass sein Bemühen vor Ort um die richtige Wahl des geeignetsten Kandidaten - den er selber kennen und auswählen kann - schlicht nicht zählt.

Dass nunmehr die Ampel erkannt hat, dass ihr eigentliches Motiv für dieses Wahlrecht die Dezimierung einer starken Opposition, insbesondere der CSU - und das Zementieren einer von den Bürgern so ja offenkundig nicht gewollten Machtkonstellation ist, zeigen die unmittelbaren Bemühungen, durch weitere Sonderklauseln irgendwie noch auf den Boden der Verfassung zurückzukehren. An der Intention, die das Verfassungsgericht mit in Betracht ziehen wird bei der Frage der Verhältnismäßigkeit, kann dies im Nachhinein nichts ändern.

Ja, es ist kompliziert, unser sogenanntes personalisiertes Verhältniswahlrecht zu modernisieren. Sonst hätten wir es in den vergangenen Jahren auch schon „leicht“ hinbekommen. Aber den Moment zu einem Einstieg in ein Wahlrecht auf Machtbasis zu nutzen, ist ein Anschlag auf die Demokratie, ohne jede Rücksicht auf das Volk.

Vielleicht noch eine Anmerkung zum Schluss: Noch nie ist der Regierungsapparat so schnell und so teuer aufgewachsen wie unter den derzeitigen „Machtinhabern“: es wurden seit Regierungsantritt allein 168 Stellen von der Ampel neu geschaffen und mit Mitgliedern der Ampelparteien besetzt, die höhere Einkommen haben als ein Bundestagsabgeordneter. Von den verfrühten Ruhestandsversetzungen von Anfang/Mitte 50-jähriger, weil nicht mit Ampel-Parteibüchern ausgestattet, und teilweise völlig willkürlichen Höherstufungen ganz zu schweigen. Das gesamte Machtgehabe der Ampelparteien sollten sich die Bürgerinnen und Bürger einmal genau unter die Lupe nehmen - soweit sie es angesichts der Intransparenz können bzw. Medien bereit sind, auch darüber zu berichten.

Kempten, 17.03.2023 Mechthilde Wittmann